Huga-huga
Ein Besuch in Stammheim

Von Joe Bauer

Auf den Stacheldrähten saßen Vögel, so wie in Kinofilmen. Vermutlich Krähen und Tauben, genau war das nicht zu erkennen. Früher hatte er geglaubt, Vögel auf Stacheldrähten gäbe es nur in Kinofilmen, wegen der Symbolik.
Am Eingang gab man ihm die Karte mit der Nummer 007. Das war Zufall. Er bemerkte es zunächst gar nicht. Schade. Ein Uniformierter hätte ihn fragen können: Wie heißen Sie? Er hätte geantwortet: 007, und er hätte die Wahrheit gesagt.
Das Eisentor öffnete sich morgens um zehn. 007 kam nicht allein. Sein Freund, der Musiker, begleitete ihn. Es war kalt, dennoch hatte der Musiker keinen Mantel an. Er ging im Hemd.
007 und sein Begleiter wurden abgeholt. Sie gingen auf eine Holzbaracke zu, einen dunkelbraun gebeizten Schuppen. 007 und sein Begleiter warfen sich Blicke zu. Sie waren im Knast von Stammheim. Vor ihnen ging Herr Boshart. Sein Schlüsselbund war so groß, dass man eigentlich einen extra Mann gebraucht hätte, um ihn zu tragen, und er hing an einer Kette.
007 fragte, ob sie jetzt in den Hochsicherheitstrakt gesperrt würden. Das wäre, sagte der Musiker, eine große Ehre. Die ganze Welt kenne den Hochsicherheitstrakt von Stammheim. Herr Boshart lachte den Musiker und 007 aus.
Sie gingen in Herrn Bosharts Büro. Aufgetürmtes Papier, zwei kleine Terminals, ein kleiner Fernseher. Das Büro sah nicht aus wie ein Knastbüro, eher wie ein Bauwagenbüro. Es roch nach schlechtem Kaffee und kaltem Rauch. Wenigstens, sagte 007, dürfe man im Knast noch rauchen. Das sei nicht unbedingt ein Grund, sagte der Musiker, für immer hier zu bleiben.
Herr Boshart lachte. Keiner, der hier sitze, sagte er, bleibe für immer hier. Stammheim sei nur noch ein Knast für Untersuchungshäftlinge, die Nacht, als hier die Terroristen starben, ein Mythos. Herr Boshart bot 007 und dem Musiker je eine Dose Fanta an. Ich bin so frei, sagte der Musiker, und er sagte es betont laut und langsam.

Der Musiker und 007 sondierten die Lage. Der Versammlungsraum der Häftlinge war wegen Bauarbeiten geschlossen. Dass die Handwerker zu Gange waren, war nicht zu überhören. Es gab regelmäßig Fehlalarm, und dann konnte man in den Fluren schallendes Gelächter hören..
Der Musiker und 007 waren gekommen, um eine Unterhaltungsshow für die Gefangenen zu planen. Statt eines Versammlungsraums gab es einen geräumigen Flur mit eingebauten Lautsprechern aus der Steinzeit und ein Mikrofon. Die Anlage war intakt und der Flur sehr schön: links und rechts Zellentüren, wie im Kino.
Der Musiker sagte, alles sei in Ordnung, man könne zur Weihnachtszeit wiederkommen, den Flur über die vorhandenen Lautsprecher bespielen und noch ein Mal über die Terroristen sprechen.
Der Musiker und 007 gingen zurück zu ihrem Auto, einem goldbraunen Mercedes. Im Wagen lag der Pelzmantel des Musikers. 007 hatte sich geweigert, den Musiker im Pelzmantel zu begleiten. Wir gehen in den Knast, brüllte 007, nicht auf den Kiez. Huga-huga, antwortete der Musiker.

Ein paar Wochen später kamen sie wieder, diesmal mit größerem Aufgebot. Musiker und 007 brachten einen Sänger und Akkordeonspieler und ein Spaßmacher-Trio mit. Das Spaßmacher-Trio war wichtig, weil es mit erhobenen Schrifttafeln einen Banküberfall spielte, so ähnlich wie Butch Cassidy und Sundance Kid im Kino.
007, der den Gefangen kleine Geschichten vortragen sollte, hatte sich im Vorfeld über die Erfolgsaussichten eines Knastauftritts erkundigt. Ein Berliner Kabarettist sagte ihm, die Aufmerksamkeit bei Darbietungen in Kästen sei gleich null. Die Gefangen würden die Gelegenheit lediglich nutzen, sich zu unterhalten. Und zu rauchen.
In Stammheim, sagte 007, sei das anders.
Als die Gefangenen in den bestuhlten Flur geführt wurden, setzte 007 seine Brille auf, weil er sehen wollte, ob er jemanden kenne. Einen kannte er, wenn auch nur aus der Zeitung. Er hatte in seiner Schule auf dem Land Geiseln genommen und sich nach langen Stunden ergeben. Jetzt war er 17 und in U-Haft.
007 und den Künstlern war es verboten, sich mit den Gefangenen zu unterhalten. Sie taten es trotzdem, keiner störte sie. Die Häftlinge fragten, ob es Zigaretten gebe. Das war der wichtigste Teil der Unterhaltung.
Der Knastdirektor kam und begrüßte alle aufs Herzlichste. 007 sagte, es wäre im Sinne aller Anwesenden besser, der Knastdirektor würde keine Begrüßungsrede halten, sondern eine Abschiedsrede. Der Knastdirektor sagte nichts und nahm im Knastflur Platz.
Der Musiker ging ans Mikrofon und brüllte so laut er konnte: Huga-huga. Keiner wusste, was das bedeutete, aber alle im Flur brüllten so laut sie konnten Huga-huga. Auch der Knastdirektor brüllte Huga-huga.
007 setzte sich ans Mikrofon und sagte, er werde jetzt eine Geschichte über Stuttgarts größten Gauner aller Zeiten vorlesen. Aus dem Auditorium brüllte einer Lothar Späth. Alle lachten, der Musiker ging ans Mikrofon und brüllte Huga-huga. Die Geschichte über den größten Gauner aller Zeiten handelte von Konrad Kujau.
Dann kam der Akkordeonspieler und sang:
Junge, schneid mich runter / Ich häng hier schon viel zu lang / Meine Kugel hat den Sheriff nur gestreift ... Das Leben ist ein Rodeo / Mal hängst du hoch /
Dann fällst du tief...

Der Musiker ging ans Mikrofon und brüllte: Huga-huga.
Am Ende, als alle Zugabe brüllten, ging 007 ans Mikrofon und sagte: Ein Mann ohne Knast – ein Schiff ohne Mast.
Der ganze Saal brüllte Huga-huga.
Der Musiker zog seinen Pelzmantel an, und alle, außer den Gefangenen und ihrem Direktor, gingen ins Wirtshaus.
Huga-huga, sagte 007 zum Wirt, Bier für alle.
Huga-huga, sagte der Wirt, ich bin so frei.
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P. S.: Der junge Geiselnehmer sprang einige Monate später von einem Hochhaus in den Tod.

Diese Geschichte wurde der Anthologie "Auf Lesereise" entnommen, erschienen in der Edition Tiamat, Verlag Klaus Bittermann, Berlin; veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung von Joe Bauer.

Die Mitwirkenden des Stammheim-Auftritts waren Joe Bauer, Eure Mütter, Michael Gaedt und Stefan Hiss.



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